Niemand wusste damals etwas darüber, wie man zu- oder abnahm. Es war ein Teil des Lebens, der einfach so akzeptiert wurde. Normalerweise waren junge Menschen schlank und ältere nicht mehr so, aber darüber machte man sich keine Gedanken.

Es gab auch einige – sehr wenige – pummlige Kinder und dünne ältere Menschen. Aber das nahm man eben so hin. Diäten waren kein Thema, Abnehmen war kein Thema (der letzte Krieg, in dem man zwangsweise hatte hungern müssen, lag noch nicht lange zurück, und man musste sich seine Polster erst einmal wieder anfuttern, um eventuell den nächsten Krieg überstehen zu können).

Dünnsein oder Dicksein war ein Teil der Persönlichkeit. Es wurde wahrgenommen wie blonde oder dunkle Haare, wie die Körpergröße, auf die man ja auch keinen Einfluss hat.

All das, was uns heute so selbstverständlich erscheint, die Verfügbarkeit von Informationen – auch über Studien zum Essen oder zu Krankheiten – war sehr beschränkt. Was einem der eigene Arzt nicht sagte, wusste man nicht. Und Ärzte wussten leider auch nicht sehr viel. (Das trifft allerdings heute noch zum großen Teil zu.)

Es gab kein Internet, kein Facebook, keine Abnehmforen, keine E-Mails, keinen Austausch über das unmittelbare Umfeld hinaus. Dass man als normaler Mensch von einer Studie erfuhr, die in Amerika durchgeführt worden war, war so gut wie undenkbar. Ganz zu schweigen davon, dass man sich mit einem Übergewichtigen in Amerika über seine Erfahrungen hätte unterhalten können.

Telefonieren über den Atlantik war extrem teuer. Das kostete mehrere Mark pro Minute, und das, wo ein Mensch vielleicht 150 Mark im Monat verdiente. Ein Gespräch von zehn Minuten hätten sich also die wenigsten leisten können. Abgesehen davon, dass praktisch niemand Englisch sprach und die Amerikaner nicht Deutsch.

Zudem war die Kommunikation auch aufgrund der technischen Voraussetzungen sehr schwierig, denn die einzige Verbindung bestand in Transatlantikkabeln, die erst einmal mühsam von Schiffen verlegt werden mussten, durch Sturm und endlose Meerestiefen. Das war teuer, und die Kabel mussten gewartet werden, sonst waren sie nach kurzer Zeit defekt.

So war man also mehr oder weniger sich selbst überlassen, wenn man ein Problem wie Übergewicht hatte und nicht wusste, was man dagegen machen sollte. Man wusste weder etwas über die Ursachen noch über Ernährung.

Ich muss schmunzeln, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, wie die Leute damals geguckt hätten, hätte man ihnen etwas von Kohlenhydraten, Fetten und Eiweiß in der Nahrung erzählt und dass die Zusammenstellung der Nahrung Einfluss auf das Gewicht haben könnte. Oder die Häufigkeit der Mahlzeiten. Kalorien.

Die meisten hätten wohl nur gefragt: Was ist das?

Logischerweise wurden nach dem Krieg die meisten dicker, aber trotzdem war Übergewicht die Ausnahme. Man muss sich nur mal Filme aus den 50er oder 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ansehen.

Die Frauenfiguren gingen je nach Veranlagung der Schauspielerin von dünn bis vollschlank, aber übergewichtig war keine. Allerdings auch nicht auf Magermodell heruntergehungert. Normale Figuren eben in der Bandbreite, die die Natur vorgesehen hat.

Bei den Männern waren es höchstens die älteren, die einen leichten Bauchansatz zeigten oder auch mehr. Junge Männer waren von Natur aus schlank. Die allgemein akzeptierte Ansicht war, dass Männer ohne Bauch eigentlich nach nichts aussehen, wenn sie erst mal ein gewisses Alter erreicht haben. Man muss dem Mann ja schließlich ansehen, dass er »Gewicht« in der Welt hat. Nicht umsonst gibt es diesen Ausdruck.

Kein Mensch versuchte, noch mit sechzig eine jugendliche Taille zu haben. Das war den jungen Mädchen vorbehalten. Auch Falten im Gesicht galten als ein Zeichen von Lebenserfahrung, und hätte man sie sich wegmachen lassen – niemand hätte gewusst, wie –, dann hätte man ja ausgesehen wie eine unerfahrene Jugendliche, das wollte man nicht.

Jugendliche waren ziemlich rechtlos und wurden nicht recht ernstgenommen. Niemand hörte auf sie. Im Gegenteil, es wurde erwartet, dass sie auf die Älteren hörten, und wenn sie das nicht taten, gab es auch mal eine Ohrfeige.

Der Jugendwahn hatte noch nicht zugeschlagen. Alte Menschen waren wegen ihrer Erfahrung anerkannt, jeder wollte der Meister sein, nicht der Lehrling, der nichts zu sagen hatte. Es war kein erstrebenswertes Ziel, jünger und dünner auszusehen. Das Ziel war, reif und erfahren auszusehen. Und dazu gehörte auch ein wenig Gewicht.

Es ist gut, sich heute einmal wieder daran zurückzuerinnern. Es war die Nicht-Beschäftigung mit dem eigenen Gewicht, die die ganze Gesellschaft schlank hielt, nicht die Beschäftigung damit. Man wusste wenig, aber man brauchte auch nicht viel zu wissen. Weil die automatische Ess-Steuerung noch funktionierte.

Es gab drei Mahlzeiten am Tag, aber diese Mahlzeiten bestanden nicht hauptsächlich aus Zucker. Natürliche Nahrung wurde bevorzugt. Ein normales Essen bestand aus einem Stück Fleisch, Kartoffeln und Gemüse. Als Nachtisch gab es einen Apfel. An Sonntagen vielleicht einen Pudding. Zwischen den Mahlzeiten gab es nichts. Und getrunken wurde Wasser oder vielleicht Kaffee – meistens ohne Zucker. In Norddeutschland war es eher Tee als Kaffee, aber der Effekt war derselbe.

Es wird niemandem schwerfallen zu erkennen, dass jemand, der sich heutzutage an diese Ernährungsweise halten würde, kaum dick werden könnte. Der eine würde mehr essen, der andere weniger, und somit hätte der eine vielleicht ein paar Kilo mehr auf den Rippen als der andere – aber nicht gleich hundert Kilo mehr.

Ich kann mich nicht daran erinnern, in meiner Kindheit je von Heißhungeranfällen gehört zu haben. Wenn man Frühstück, Mittag oder Abendbrot gegessen hatte, war man satt und dachte nicht mehr über Essen nach. Es war kein Thema, das den Alltag beherrschte. Es war eine Notwendigkeit, sonst nichts.

In den Illustrierten wurde über Filmstars berichtet oder über die Angehörigen adeliger Häuser, über Schlagersänger und Jungschauspieler – aber nicht über ihre Diäten. Welche Autos sie fuhren, wie luxuriös sie lebten, das interessierte die Menschen, aber nicht, was sie aßen. Über so ein Ansinnen hätte jeder Redakteur einer solchen Zeitschrift damals nur den Kopf geschüttelt.

Aber irgendwann änderte sich das. Der Wohlstandsspeck wurde immer mehr, und das war etwas Neues. So etwas hatte es nie zuvor gegeben. Männer interessierten ihr Gewicht oder ihr Bier- oder Schweinshaxenbauch nicht, aber die Frauen begannen, sich Gedanken über ihre immer mehr ausufernde Taille zu machen, die nun nicht mehr mit der zu vergleichen war, die man vor dem Krieg gehabt oder bei anderen Frauen gekannt hatte.

Die Eitelkeit schlug zu, und man begann sich mit Diäten zu beschäftigen.

Ein fataler Fehler.

---

Wird fortgesetzt

Das aktuelle Buch